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Konzeptions- und
Machbarkeitsstudie für ein
Dokumentationszentrum
zum NSU-Komplex

In Gedenken an
Enver Şimşek Abdurrahim Özüdoğru Süleyman Taşköprü Habil Kılıç Mehmet Turgut İsmail Yaşar Theodoros Boulgarides Mehmet Kubaşık Halit Yozgat Michèle Kiesewetter
Atilla Özer (gestorben 2017 an den Spätfolgen des Anschlags in der Kölner Keupstraße)

Die Studie in drei Sätzen

Die Studie schlägt ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex vor, das ausgehend von Betroffenenperspektiven solidarische Allianzen stärkt, marginalisierte Perspektiven mit Kunst und Wissenschaft sichtbar macht und Wissen vermittelt, erweitert und bewahrt. Als Standorte empfiehlt die Studie Chemnitz und Zwickau: Beide bilden einen gemeinsamen Erfahrungsraum, in dem sich der NSU formieren und agieren konnte. Das Dokumentationszentrum ist als Knotenpunkt in einem bundesweiten Aufarbeitungsnetzwerk konzipiert, den geeigneten Rahmen für dessen Betrieb bietet eine privatrechtliche Stiftung, an die auch weitere Aufarbeitungsinitiativen anknüpfen können.

Was ist gemeint, wenn vom NSU-Komplex gesprochen wird?

Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat, Michèle Kiesewetter – das sind die Namen der Menschen, die der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 ermordete. Dutzende mehr wurden bei drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfällen des NSU verletzt oder traumatisiert. Atilla Özer starb 2019 an den Spätfolgen des Anschlags in der Kölner Keupstraße.


Die Taten des NSU waren möglich durch:


  • ein breites Unterstützer*innen-Umfeld in der neonazistischen Szene – das bis heute fortbesteht und von dem nur ein kleiner Teil überhaupt juristisch belangt wurde,

  • eine Verzahnung deutscher Geheimdienste mit dieser Szene – Geheimdienste, die trotz ihrer Verwicklungen im Anschluss personell und materiell massiv gestärkt wurden,

  • strukturellen und institutionellen Rassismus in den Strafermittlungsbehörden – für dessen Beseitigung bis heute umfassende und wirksame Maßnahmen fehlen,

  • eine kritiklose Übernahme rassistischer Deutungen in Medien und Mehrheitsgesellschaft – Deutungen, die zum Teil nach wie vor den politischen, medialen und öffentlichen Diskurs bestimmen,

  • sowie eine fehlende Wahrnehmung und Solidarisierung mit den Betroffenen in Zivil- und Mehrheitsgesellschaft – eine Frage der Gerechtigkeit, die auch angesichts von aktuellem rechtem Terror mehr Aufmerksamkeit benötigt.

All dies wird seit einigen Jahren unter dem Begriff NSU-Komplex zusammengefasst.

Warum ist der NSU-Komplex heute noch von hoher Relevanz?

Dieser Komplex stellt in der deutschen Gesellschaft eine Zäsur dar – es gibt ein Davor und ein Danach im Umgang mit Rassismus. Das liegt vor allem an einer Gegenbewegung, die in einem Akt der Selbstermächtigung einen gesellschaftlichen Raum für die Betroffenen öffnen konnte. Sie fordert die Einlösung des demokratischen Gleichheitsversprechens gegenüber allen Mitgliedern dieser Gesellschaft.

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Wieso braucht es ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen?

Sachsen ist das Bundesland, in dem sich der NSU formierte und eingebunden in ein sowohl lokales als auch überregionales Netzwerk aus Unterstützer*innen Anschläge plante und durchführte. Die Verhältnisse, die dieses Agieren möglich gemacht haben, sind nicht aufgearbeitet. Sachsen war und ist ein Zentrum neonazistischer Organisierung – damit einher geht zwangsläufig rechte Gewalt. Trotz der großen Zahl von Betroffenen – allein in Sachsen haben die Beratungsstellen seit 2009 5.447 direkt Betroffene rechtsmotivierter Angriffe gezählt – geraten diese schnell aus dem Blick. Um diesen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und der rechten Raumnahme etwas entgegenzusetzen, hat insbesondere die sächsische Zivilgesellschaft die Forderung nach einem Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex stark gemacht.

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Welche Arbeitsbereiche soll das Dokumentationszentrum umfassen?

Sechs Arbeitsbereiche werden in der Studie definiert:

  • Assembly: ein geschützter Ort der Versammlung und Selbstorganisation von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt

  • Ausstellungen: ein musealer Wirkungsraum mit Dauer- und Wechselausstellungen und in Verbindung von Wissenschaft und Kunst

  • Bildung und Vermittlung: ein spezifisches pädagogisches Angebot, das anhand politisch-kultureller Methoden Wissen über den NSU-Komplex vermittelt und die Grundlage für ein gesellschaftliches Verlernen von Rassismus legt

  • Forschung: ein wissenschaftlicher Tätigkeitsbereich zur Erarbeitung von Wissen über den NSU-Komplex sowie über rechte Gewalt und rechtsterroristische Taten nach 1945, aber auch zur Erforschung von Migration insbesondere in Ostdeutschland und von antirassistischen Emanzipationsbewegungen

  • Archiv, Sammlung und Bibliothek: Dokumentationsbereiche, die die Arbeits- und Materialgrundlagen für alle anderen Arbeitsbereiche aktiv recherchieren und bereitstellen und als Living Archive auch Teil der künstlerischen und Vermittlungspraxis des Dokumentationszentrums sind

  • Digitaler Raum: Transfer aller Arbeitsbereiche ins Digitale, der eine ortsungebundene Wirkungsmöglichkeit im Sinne einer dauerhaften Querschnittaufgabe darstellt

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Für wen ist das Dokumentationszentrum gedacht?

Die Studie unterscheidet zwischen eng an das Dokumentationszentrum gebundenen Partizipierenden (Betroffene antisemitischer, rechter und rassistischer Gewalt; Kulturakteur*innen und Künstler*innen; Wissenschaftler*innen) und Zielgruppen seiner Arbeit (Jugendliche und junge Erwachsene, internationales Fachpublikum, Lehrkräfte und Multiplikator*innen, Strafverfolgungsbehörden, Behördenmitarbeiter*innen, Stadtgesellschaft und interessierte Öffentlichkeit). Dazu erarbeitet sie Kriterien für ein gelingendes Audience Development. Ziel des Dokumentationszentrums ist, Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte einzubinden und die Handlungssicherheit aller Menschen, die von Rassismus betroffen sind, zu stärken. Das gilt für Partizipierende und Besuchende ebenso wie für die hauptamtliche Personalstruktur.

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Wie sollen die Menschen angesprochen werden?

Eine gute Einbindung und Ansprache von Menschen als Publikum und als Partizipierende im Dokumentationszentrum ist ein zentrales Ziel. Erreicht werden soll es durch den Aufbau von langfristigen und nachhaltigen Kooperationen, eine gut ausgestattete Öffentlichkeitsarbeit, barrierearme Möglichkeiten der Teilhabe, den Aufbau einer interagierenden Beziehung zum Publikum sowie eine von vorneherein intensive Digitalstrategie.

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Was kostet das vorgeschlagene Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex?

Bei dem definierten Personalbedarf von 42 Stellen entstehen jährliche Personalkosten von etwa 2,75 Millionen Euro. Für die Errichtung des Dokumentationszentrums ist ersten Schätzungen zufolge mit Investitionskosten zwischen 23,9 und 36,4 Millionen Euro zu rechnen. Die jährlichen Betriebskosten sind mit etwa 630.000 Euro zu veranschlagen. Hinzu kommt ein jährlich neu aufzustellender Sachkostenetat für die Arbeitsbereiche und ein Fellowship-Programm, mit dem kontinuierlicher Austausch im und neue Impulse für das Dokumentationszentrum gefördert werden.

Was ist wichtig, damit die Idee eines Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex wirksam umgesetzt werden kann?

Mit der Gründung des Dokumentationszentrums geht ein Signal der Anerkennung an die Betroffenen einher: Staat und Gesellschaft signalisieren, dass ein Lernen aus dem NSU-Komplex notwendig und nicht abgeschlossen ist. Diese Anerkennung soll zugleich weiter reichen: Für die Entscheidungsgremien rund um das Dokumentationszentrum ist es zentral, die Betroffenen unter Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse dauerhaft einzubinden und zugleich das gesellschaftliche Aufarbeitungsbündnis einzubeziehen, das sich aus Betroffenen und Engagierten aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Medien und Politik zusammensetzt. Essenziell ist zudem, dass die Einrichtung unabhängig und finanziell abgesichert arbeiten kann. Mit einer Organisationsform, die kompatibel mit den Regelungen der öffentlichen Haushalte sowohl auf Bundes- und Landesebene ist, wird gewährleistet, dass sich Dokumentationszentrum als Teil eines größeren bundesweiten Netzwerks entwickeln kann.

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In welchem Verhältnis soll das Dokumentationszentrum zu anderen Initiativen stehen?

Das Netzwerk der Menschen, die sich um Aufarbeitung und Gedenken bemühen, besteht bundesweit. Gedenken und Aufarbeitung gestalten sich an den einzelnen Orten unterschiedlich, haben zum Teil unterschiedliche Schwerpunkte und Bedarfe, verfolgen aber gleiche Ziele. Es braucht eine Organisationsform, die diesem Umstand gerecht wird und die unterschiedlichen Ansätze nicht in Konkurrenz zueinander setzt, sondern möglichst viele davon berücksichtigt und stärkt. Die vorliegende Studie macht hierzu einen konkreten ersten Vorschlag.

Wie kann das Dokumentationszentrum finanziert werden?

Nach Überprüfung verschiedener Trägerschaftsformen empfiehlt die Studie die Gründung einer privatrechtlichen Stiftung, die über eine Finanzierungsvereinbarung zwischen Bund und Freistaat Sachsen oder – abhängig von der Aufnahme weiterer Orte – zwischen Bund und Ländern abgesichert werden sollte.

Wie funktioniert die Stiftung?

Die Stiftung kann als umfassenderes erinnerungspolitisches Förderinstrument konzipiert werden und zusätzlich zum sächsischen Dokumentationszentrum an verschiedenen Orten andere Institutionen aufbauen sowie durch die Erteilung von Fördermitteln wirken, so dass sie der bundesweit bestehenden Aufarbeitungsbewegung gerecht wird. Sie könnte darüber hinaus auch andere Taten rechten Terrors nach 1945 berücksichtigen, die nicht oder nur indirekt mit dem NSU-Komplex in Verbindung stehen. Über die Belange der Stiftung entscheiden die Betroffenen der Taten sowie Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Medien und Kunst gleichberechtigt mit politischen Vertreter*innen von Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Sie werden unterstützt von einem Jugendbeirat als Kuratorium.

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Wo soll das Dokumentationszentrum entstehen?

In Chemnitz und in Zwickau. Beide Orte spielen für die Formierung des NSU eine zentrale Rolle und bilden einen gemeinsamen Erfahrungsraum. In Zwickau wurde die Idee für ein solches Dokumentationszentrum erstmals formuliert. Viele Beteiligte haben daran anknüpfend einen Prozess gestartet und unterstützt, in dessen Folge heute bundesweit über die Umsetzung eines Dokumentationszentrums diskutiert wird.

Nach welchen Kriterien wurden die Standorte untersucht?

Berücksichtigt wurde der lokale Bezug zum NSU-Komplex, das Vorhandensein und die Erreichbarkeit von Partizipierenden und Zielgruppen, die infrastrukturelle Anbindung sowie Sicherheitsaspekte. Darüber hinaus definiert die Studie Kriterien für die Wahl eines Standortes innerhalb der Stadt. Dabei wird zusätzlich die vorhandene Bausubstanz, das Entwicklungspotenzial eines Standorts, dessen Erreichbarkeit und das Umfeld erfasst.

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Wieviel Platz und welche baulichen Grundlagen braucht es?

Die vorgeschlagene Nutzfläche umfasst für Chemnitz 3000 Quadratmeter und für Zwickau 460 Quadratmeter. Mit Blick auf die vorhandene Bausubstanz in beiden Städten und die besondere Berücksichtigung von Akzeptanzfaktoren und Klimaschutzaspekten empfiehlt die Studie ein Bauen im Bestand. Entsprechende Umbauten sollen dem Grundsatz des Designs für Alle folgen, so dass eine umfassende Barrierefreiheit gewährleistet ist. Um die Qualität der Umbauten zu gewährleisten, wird ein offener Architekturwettbewerb empfohlen, der gleichzeitig einen breiten Beteiligungsprozess ermöglicht.

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Wer und wie soll im vorgeschlagenen Dokumentationszentrum gearbeitet werden?

42 Stellen hat die Studie definiert, sie umfassen vielfältige Tätigkeitsbereiche und ein breites Spektrum verschiedener Professionen: Von der Wissenschaftler*in und Dokumentar*in über die Café-Mitarbeiter*in und Programmier*in bis hin zur Vermittler*in und Haustechniker*in. Der interdisziplinäre Arbeitsansatz ist zentral, ebenso die Grundsätze einer diversitätsorientierten Personalentwicklung.

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Was ist die Grundlage dieser Studie?

Die 2019 gewählte sächsische Landesregierung hat in Reaktion auf diese langjährig bestehenden Forderungen nach einem Dokumentationszentrum eine Unterstützungszusage in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen. 2021 hat sich auch die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag zu einer Unterstützung bekannt und damit auf einen offenen Brief reagiert, den die beiden sächsischen Vereine ASA-FF und RAA Sachsen initiiert hatten und der in kurzer Zeit von über 270 Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen unterzeichnet wurde.

Wer hat die Studie erarbeitet?

Erarbeitet wurde die Studie als Kooperationsprojekt zwischen RAA Sachsen in Dresden und ASA-FF in Chemnitz. Der ASA-FF e.V. hat die Ausstellung Offener Prozess konzipiert und der RAA Sachsen e.V. ist unter anderem Träger der Beratungsstellen für die Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Sachsen. Finanziell wurde die Arbeit durch das Sächsischen Ministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung, der Amadeu Antonio Stiftung sowie durch die Stiftung Weiterdenken unterstützt.

Wie wurde die Studie erarbeitet?

Basis für die Erarbeitung der Studie waren drei Fachforen, die von Mai bis Juni 2022 in Chemnitz als hybride Veranstaltung stattgefunden haben. Ergänzend wurden Literaturrecherchen und gezielt geführte Expert*inneninterviews durchgeführt. Zudem wurde das Team durch einen als Gründungskreis bezeichneten Projektbeirat aus Expert*innen und Aktiven der Aufarbeitungsbewegung unterstützt.

Wie geht es weiter?

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